Alle vier Minuten verlässt
ein Deutscher sein Land. An jedem einzelnen Tag verliert Deutschland ein ganzes
Dorf, womit die Zahl der Auswanderer Dimensionen erreicht, wie seit 120 Jahren
nicht mehr. Zum Weihnachtsfest 2009 bieten deutsche Fluggesellschaften sogar
einen Weihnachtsbaumtransport für Auswanderer an.
Was die Angelegenheit
so heikel macht: Es sind die Besten und Jüngsten, die genug haben und gehen. Im
Gegensatz zu den Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts verlassen nicht etwa
Analphabeten, Bauern und verzweifelte Arbeiter das Land. Wir erleben keine
Elendsflucht, sondern einen Exodus des gebildeten Mittelstands.
Das Durchschnittsalter
unserer Auswanderer beträgt 32 Jahre, es sind junge Ärzte und Ingenieure,
Wissenschaftler und Facharbeiter, Handwerker, Techniker und ehrgeizige
Dienstleister. Nach Angaben der OECD verliert Deutschland besonders viele
Akademiker. Als die Auswanderungswelle aufbrandete, dachte man zunächst an
Steuerflüchtlinge oder einen gesunden Globalisierungseffekt beim
Exportweltmeister. Inzwischen gibt es kaum eine Familie mehr, die nicht
betroffen ist, kaum ein Fernsehabend mehr ohne Serien wie "Mein neues
Leben" (Kabel 1), "Goodbye Deutschland - die Auswanderer" (Vox),
"Lebe deinen Traum" (Pro7) und "Umzug in ein neues Leben"
(RTL). Nach einer Allensbach-Umfrage würde jeder fünfte Deutsche es den
Fernsehvorbildern gerne gleichtun.
Der Migrationsforscher
Klaus Bade warnt unmissverständlich: "Wir befinden uns in einer
migratorisch suizidalen Situation." Während unser Sozialstaat
hunderttausende Unqualifizierter aus den Randzonen Europas anzieht, fühlen sich
die jungen Vertreter des Leistungsmittelstands hierzulande immer fremder. Der
Handwerksmeister, der in Australien nicht vom Bürokratenstaat bedrängt wird,
der Arzt, der in Norwegen nicht zum Krankenhausbeamten degradiert wird, der
Wissenschaftler, der in den USA bessere Forschungsbedingungen hat, die
Hotelfachfrau, die in der Schweiz das Doppelte verdient aber weniger Steuern
zahlt, der Bauingenieur, der in Arabien oder China sein Können vergoldet
bekommt - die Motive wechseln. Aber eines eint sie alle: Anderswo geht es ihnen
besser als daheim.
Das ist für die
Deutschen, die sich für Jahrzehnte als die Wirtschaftswunderklassenbesten
gefühlt haben, eine schockierende Erfahrung. Auf einmal arbeiten sie als
Gastarbeiter in fremden Ländern, und wenn die Wirtschaftselite der Welt sich
demnächst wieder in Davos trifft, dann sind die Hotelkellner die Deutschen.
Man spürt bei
Auslandsreisen, dass die Dinge sich anderswo besser entwickeln als bei uns.
Die Überlegenheitsgewissheit,
die jeden Sommerurlaub im Süden zu einem Selbstbestätigungs-Event gemacht hat,
ist verschwunden. Avantgarde, wirtschaftliche oder technologische, spürt man
nicht mehr daheim, sondern in der Fremde. Doch damit sind die Kategorien der
Orientierung für die nächste Generation der Talentierten vertauscht. Die Fremde
wird zum Ort der Ambition.
Wenn die Autobahnen in
Andalusien inzwischen besser sind als im Ruhrgebiet, unsere Schulen neben denen
in Skandinavien wie Baracken aussehen, wenn ein deutscher Krankenhausarzt nur
noch so viel verdient wie ein Pförtner in Abu Dhabi, wenn eine
Facharbeiterfamilie so hohe Steuern und Sozialabgaben zahlt, dass ihnen weniger
übrig bleibt als einem Koch in Zürich, dann gehen sie eben. Immer mehr Menschen
merken, dass ihnen Deutschland immer weniger bietet. Alleine 16000 deutsche
Ärzte haben inzwischen das Land verlassen. Ihre teure Ausbildung ist damit zu
einer Subvention der Schweiz, Norwegens, Englands, der USA geworden.
Während wir endlos über
die Extreme von oben (Topmanager und deren Gier) und unten
(Mindestlohn-Empfänger und gewalttätige Migrationsjugendliche) diskutieren,
vollzieht sich ein Bruch der Gesellschaft in der Mitte. Die Politik erörtert
über Jahre, wie man den Wohlstands-Kuchen noch ein bisschen gerechter verteilen
könnte, doch unterdessen flüchten diejenigen aus der Küche, die den Kuchen
backen sollen. Sie zahlen immer höhere Abgaben, erleben Wohlstandsverluste,
werden von Radarfallen bis Steuererklärungen schikaniert, schicken ihre Kinder
in schlechte Schulen und werden dem Wettbewerbsdruck der Globalisierung mit
viel weniger Schutz ausgesetzt als die ganz unten und ganz oben.
Die Flucht aus der
Heimat ist eine Volksabstimmung mit den Füßen geworden, ein Alarmsignal aus der
Mitte der Gesellschaft. Die Auswanderer revoltieren nicht und krakeelen nicht,
sie haben keine Gewerkschafts- oder Politkampagne hinter sich, sie gehen
einfach still und leise fort. Und lassen sich den Weihnachtsbaum nach Spanien
fliegen.
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